
Liebe Angehörige, liebe Trauergemeinde,
Inge war am 29. Dezember 1938 in Bergen-Enkheim als Kind des Ehepaars Hofmann geboren. Der aus Fechenheim stammende Vater wurde in den Krieg hineingezogen und blieb in Stalingrad vermisst, daher musste Inge ohne ihn aufwachsen ebenso wir ihr Cousin Horst; die beiden waren in ihrer Schicksals-Gemeinschaft fast wie Geschwister, nur dass Horsts Vater tatsächlich wieder nach Hause kam, nicht jedoch der von Inge. Für sie war es in mancher Hinsicht mit einer Stigmatisierung verbunden, halbe Kriegswaise zu sein. Auf der einen Seite gab es Vergünstigungen, auf der anderen Seite war sie, als sie nach der Volksschule wegen ihrer guten Leistungen aufs Gymnasium wechseln sollte, allein mit ihrer Mutter Marie in einer schlechteren Position gegenüber den Lehrern, die damals noch den Platz für ein Mädchen nicht auf dem Gymnasium, sondern am Herd sahen. Dennoch kam Inge auf die weiterführende Schule und besuchte erfolgreich das Herder Gymnasium bis zur Mittleren Reife. Anschließend begann
sie eine Lehre zum Industriekaufmann, wie das seinerzeit noch hieß, und arbeitete dann auch bei Naxos in ihren Beruf.
Schon mit 17 lernte Inge den gleichaltrigen Gerhard Schürrer kennen, den der
Krieg nach Bergen-Enkheim verschlagen hatte. Er war schon in seiner Heimat mit
Christentum und Kirche in Kontakt gewesen, so traf er Inge, die in ihrer Heimat
gemeinde getauft und konfirmiert war, im Kirchenchor und in der Jugendgruppe.
Inge hat sehr gerne gesungen und Akkordeon gespielt. Eine Liebe auf den ersten
Blick war es nicht bei den beiden, vielmehr reifte eine sehr gute Freundschaft zu
einer sehr starken Liebe. 1961 war die Verlobung, und am 1. Januar 1963 war die
Eheschließung
Das Ehepaar lebte innerhalb der vorgegebenen Rahmenbedingungen und schaffte
sich seine kleinen Freiheiten: Das Campen am Kahler See gehörte dazu, Touren
mit dem Fahrrad und Wandern. Inge machte auch den Führerschein, was in
jener Zeit für Frauen alles andere als selbstverständlich gewesen ist. Die erste
gemeinsame Wohnung war noch in der Triebstraße 16, 1968 wurde Kai geboren
1969 ging es nach Oberdorfelden in die Odenwaldstraße, 1972 kam Tanja dazu,
und 1974 ging es zurück nach Bergen in den Schießgraben 18, wo dann auch
Inges Mutter mit wohnte. Die Kinder erinnern sich dankbar, dass ihre Mutter ein
großes Herz hatte und niemanden unversorgt ließ, den die Kinder mit nach
Hause gebracht hatten. Das hat sie bei ihrer Mutter so gesehen, und das hat sie
dann auch selbst so praktiziert und weitergegeben
In der Wirtschaftswunderzeit konnte die Familie gute Zeiten genießen, schöne
Urlaube waren möglich, gern am Wasser, ob an einem See oder am Meer, zum
Beispiel auf Fehmarn. 1978 kam die Familie nach Fechenheim, zunächst in die
Birsteiner Straße l9 in ein großes Haus, und als die Kinder flügge zu werden
begannen, ging es 1989 zusammen mit Inges Mutter in das etwas übersichtlichere
neugebaute Haus in der Salmünsterer Straße 50. Mit der Kirchengemeinde
verbunden blieben beide über all die Jahre sehr intensiv, sie waren praktisch
immer präsent und insbesondere ebenso interessierte wie auch kritische Teilneh-
mer beim Bibelkreis
Eigentlich wollte Inge nach der Grundschulzeit der Kinder wieder arbeiten gehen,
aber eine seit 1983 ihren Lauf nehmende Krebserkrankung machte diesen Plan
zunichte und sollte ihr ganzes weiteres Leben prägen und bestimmen. Die
Behandlung war weit weniger schonend als heute, Inge hat sich aber insbesondere
in Gegenwart der Kinder nie anmerken lassen, wie schlecht es ihr damit ging. In
der Folge entwickelte sich eine Vasculitis, eine damals noch wenig bekannte
Krankheit, bei der es durch autoimmunologischc Prozesse zu Entzündungen
kommt, die im Körper herumwandern und verschiedene Organe angreifen. Hätte
die Krankheit gut diagnostiziert werden können, wäre mancher Eingriff danach
wohl gar nicht nötig gewesen. So jedoch begann ein Martyrium an Bchand-
lungen, bei denen obendrein schief ging, was nur schiefgehen konnte.
Inge Schürrer erwies sich in dem steten und schließlich immer rasanter gehenden
Auf und Ab ihrer Krankheitsgeschichte nicht nur als eine Kämpferin, die jeden
neuen Schrecken tapfer anging und jede weitere unvermutete Zumutung auf sich
nahm, von denen ich hier gar keine einzelne nennen mag. Nein, sie nahm die
Herausforderung aktiv an und knüpfte auch viele Kontakte in dieser Zeit und
pflegte sie über die Jahre. In Vorlesungen für angehende Mediziner stellte sie sich
zur Verfügung, um auf diese Weise zu helfen, dass die Behandlungsmöglichkeiten
verbessert wurden. Und nicht zuletzt war sie trotz allem immer für die Kinder
und für ihre Familie da und hat ihre Mutter mitbetreut
Immer musste Inge Schürrer damit rechnen, dass ein Klinikaufenthalt nötig
wurde. Die Tasche für das Krankenhaus stand ständig gepackt bereit. Und mehr
fach ist sie in einen lebensbedrohlichen Zustand geraten sogar mit Nahtoderfah-
rungen. So war in der Familie der Tod immer wieder vor Augen. Das hat nicht nur
den Zusammenhalt gestärkt, sondern auch zu einer sehr bewussten und dankba
ren Lebensweise beigetragen zum Beispiel mit der Maxime, nie im Streit aus-
der zu gehen, weil man ja nie wissen konnte, ob man wieder ins Reine kommen
würde, und mit viel gegenseitiger Zuwendung un Nähe
Die Zeit der Krankheit war eine Zeit dunkler Schatten, die im letzten Jahr immer
häufiger kamen und immer dunkler wurden. Urlaube waren schon seit langer
nicht mehr möglich, weil die Rettungsdienste immer kurzfristig erreichbar s
mussten und die Ärzte ohne Kenntnis der Krankengeschichte kaum handlungs
fähig waren. Enttäuschungen kamen hinzu: Sie, die so gerne sang, konnte das
nach einer unglücklich verlaufenen Operation so gut wie nicht mehr. In der Reha
hatte sie begonnen, schöne Aquarelle zu malen, aber Bänderrisse aufgrund einer
Cortisonbchandlung machten auch diesen Anfang wieder zunichte. Anfang des Jahres
ist Cousin Horst gestorben, was sie sehr mitgenommen hat. Auf der
anderen Seite gab es zwischendrin auch sehr viele Lichtblicke; die Goldene Hoch
zeit 2013 musste zwar erst kurzfristig abgesagt werden, konnte aber dann doch
noch in der Reha nach gefeiert werden. Und neben unsäglichem Versagen des
Medizinbetriebes gab es darin auch tragende Erfahrungen von Menschlichkeit
und Zuwendung.
Inge Schürrer war ein hoffnungsfroher Mensch. Sie hat wohl hier und da mit Gott
gehadert, weil sie ebenso wie Hiob ihr Schicksal als ungerecht empfand, aber auch
immer wieder neue Zuversicht und Gottvertrauen gewonnen, so dass ihr die Greif
barkeit des Todes aufgrund ihrer Erfahrungen mit seiner Nähe auch keine Angst
mehr einflößt. Dazu hat sie immer zuerst an andere gedacht, hatte auch im
Krankenhaus für jeden und jede ein gutes Wort. Dass sie sich nicht hat unter-
kriegen lassen, das hat ihr selbst und ihrer Familie viele Jahre geschenkt, aus
denen sie selbst das Beste zu machen versucht hat, und für die ihre Lieben sehr
dankbar sind. Inge Schürrer hat sich in den beinahe 35 Jahre ihres Leidens nicht
in die geduldige Passivität der Patientin gefügt, sondern sich aktiv für sich selbst
und andere eingesetzt, hat geholfen und geprägt hat auch mit ihrer ganzen
Haltung gesät, was jetzt weitergegeben werden kann.
Im Lauf der Ehe sind Inge und Gerhard Schürrer ein Teil vom anderen gewor-
den. Kein Blatt passte zwischen die beiden, so sehr waren sie miteinander verwo-
ben. Es fällt schwer, wenn nun die Seele und die Denkerin der Familie fehlt, ihre
Einfühlsamkeit, ihr Sinn für Gerechtigkeit, ihre Sympathie für die Vögel, die sie
gesammelt hat, und für die sie wohl deshalb eine Leidenschaft hatte, weil sie
zugleich Freiheit und Zerbrechlichkeit symbolisieren. Kai und Tanja sind dankbar
für eine liebevolle und umsorgte Kindheit, in der sie die Zuverlässigkeit der Eltern
und ihr unbedingtes Engagement schätzen gelernt haben. Alle gemeinsam er-
innern sich jenseits der Leiden an sehr schöne gemeinsame Zeiten und Erlebnisse,
an die Urlaube, an die unzähligen Grill-Gelegenheiten, an eine Frau, die in vielem
sehr vorbildhaft gelebt hat
Es ist ein Wunder, dass Inge Schürrer den Kampf um das Leben so lange hat
führen können, auch wenn sich in den letzten Monaten und gerade auf der
Intensivstation abzeichnete, dass sie ihn am Ende tatsächlich verlieren würde.
Auch über die Umstände des Sterbens am 14. Dezember will ich nichts weiter
sagen, nur, dass sie am Ende friedlich eingeschlafen ist und mit einem entspann-
ten Gesichtsausdruck und einem Lächeln im Gesicht dagelegen ist. Das ist ein
kleiner Trost, und alle sind auch dankbar für die Erlösung, die mit dem sterben
Hand in Hand einhergegangen ist. Inge Schürrer wird mit ihrer ganzen Lebens-
einstellung als ein sehr ungewöhnlicher, sehr zugewandter und vorbildlicher
Mensch präsent bleiben.
Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, woher kommt mir Hilfe?“ dieser
Psalmanfang hat Inge und Gerhard Schürrer seit ihrer Eheschließung begleitet.
Hier bricht ein Wanderer auf, um sich auf einen ungewissen Weg zu begeben –
auf den Weg des Lebens, ja, vielleicht auch auf den Weg zum ewigen Leben? Der
Wanderer ist sich beim Aufbruch einen Moment lang unsicher: Die Berge
stehen für Mühen, für schwere Strapazen, für unberechenbare Gefahren und
Hindernisse wir denken an die Probleme und Risiken, die sich einem im Lauf
eines Lebensweges in den Weg stellen und mitunter riesige Anstrengung kosten
und womöglich unbezwingbar erscheinen
In der Tat: Wie hinfällig fühlen wir uns gegenüber einem fast ewigen Bergmassiv
Wie klein, wenn wir nach oben schauen! Wie verloren, wenn wir bedenken, was
man in seinem Leben alles mitmachen und aushalten muss. Wie vergänglich, wie
unbedeutend wir im großen Weltganzen sind! Wie unüberwindbar erscheint uns
unser Schmerz, manches Leid! Wir erinnern uns an Erfahrungen des Scheiterns,
an Vergeblichkeit, an schwere Entscheidungen, an Schritte, die unendlich
schwer fielen.
Woher kommt meine Hilfe?“ möchte man fragen, wenn man angesichts solch
Aussichten losgcht: „Wie kann ich das nur schaffen?
Der Wanderer unseres Psalmverses blickt offenbar wirklich nur einen Augenblick
so hilfesuchend auf das, was an unbekannter Wegstrecke vor ihm liegt. Ein kurzer
Seufzer nur, dann weiβ er schon, dass er mitten in den Bergen, mitten in der
Gefahr, mitten in den Unwägbarkeiten des Lebens eine Hilfe erwarten kann, eine
Rettung, so dass er seinen Weg unbeschadet fortsetzen und zu Ende bringen
kann, zum Ziel: „Meine Hilfe kommt von dem HERRN, der Himmel und Erde
gemacht hat.“ Nicht von irgendeinem seinesgleichen also, einem Mitwanderer
und Freund, sondern von Gott, der alles geschaffen hat, und der seine Geschöpfe
liebt. Von dem, der den kleinen Menschen in der übermächtigen Natur der Berg
hütet wie seinen Augapfel.
Mit diesem Gedanken wird aller Zweifel abgeschnitten und alle Zaghaftigkeit auf
festen Boden gestellt. Das Vertrauen auf Gott ist die unangreifbare Basis und
Voraussetzung des Trostes, den er dem Losziehenden mit auf den Weg gibt. Weil
alles aus Gottes Hand hervorgegangen ist, darum hat Gott in allem die Macht zu
helfen, denn er bleibt seinen Geschöpfen verbunden, und alles steht auch jetzt
noch in seiner Hand. Der Glaube an die bergende und rettende Schöpfermacht
Gottes ist der gleiche Glaube, der uns in dem Lied von Paul Gerhardt begegnet:
„Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege des,
der den Himmel lenkt. Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn,
der wird auch Wege finden, da dein Fuβ gehen kann.“
In diesem Glauben, als Gottes Geschöpf in seiner Hand zu stehen, liegt der Aus-
gangspunkt eines starken Vertrauens, das den Weg trotz aller Unwägbarkeiten
möglich macht. Nicht naiv bricht der Wanderer auf, nicht blauäugig gehen wir
unseren Weg, aber mit der Zuversicht, dank Gottes Hilfe zur rechten Zeit einen
guten Gedanken, einen Trost, eine Geborgenheit, einen Beistand, eine Begleitung
einen Weg zu finden.
„Gott hilft“ nichts anderes bedeutet der Name Jesu. Er gibt jene innere Stärke.
jene Kraft, jene Zuversicht, die man nötig hat auf den verschlungenen und über
hohe Berge und tiefe Täler führenden Wegen durch die Zeit. Er schenkt jenes
Bewusstsein, nicht allein zu sein, keinen Moment des Lebens. Er ist mit dabei auf
dem Weg. Er wandert mit wie in der Begleitung der beiden Jünger, die nach Jesus
Tod nach Emmaus unterwegs waren, voller Trauer und Ratlosigkeit. Ihnen öffnet
er den Sinn seines Lebens und Sterbens, so dass sie froh wurden. Er wandert mit
auch an die tragischen Orte. Dort zeigt er sich als der Schmerzensmann, der dein
Unglück kennt und dich darin nicht im Stich lässt, der mitträgt an deiner Last
und der dich trägt, wenn du nicht mehr kannst. Er wandert mit, um dich am Ende
deines Weges aufzunehmen in sein Haus, wo die Heiligen und Hausgenossen
Gottes ihre Wohnung finden werden, um die erfüllende Gemeinschaft Gottes zu
erfahren. Ja, er geht mit, er nimmt dir die Last der Schuld von den Schultern, und
sein Joch ist sanft.
Darum wollen wir nun mit immer fester werdendem Tritt in die Zukunft gehen
traurig über den Verlust, aber auch beruhigt, weil ein Mensch nicht einfach weg
sondern heimgegangen ist; schmerzlich erinnert an die eigene Endlichkeit, aber
auch getröstet durch das Wort von der Auferstehung; alleingelassen im Abschied
aber auch mit der Gewissheit, dass Gott sich der Mühseligen und Beladenen
annimmt,
Pfarrer Wilfried Steller
